Fennistik – es klingt im Namen schon an – ist die Wissenschaft von der finnischen Sprache, Literatur und Kultur. Am Greifswalder Institut kann man jedoch nicht nur Finnland kennenlernen, sondern auch seinen Nachbarn Estland. Warum lohnt sich ein Blick auf die kleine Ostseeraumsprache? Was sollte man in Estland auf jeden Fall gemacht haben?
In Folge 6 unserer Interviewreihe stellt sich die Greifswalder Estnischlektorin Liina Lutsepp – ihrerseits Fennistin – unseren fünf fennistischen Fragen.
Marko Hautala stammt aus dem westfinnischen Kauhava und hat sich mit seinen Horrorgeschichten bereits den Titel eines „finnischen Stephen King“ verdient. Nach einem Studium der englischen Sprache und Literatur arbeitete er unter anderem als Lehrer, Übersetzer für Filme und Pfleger in einem psychiatrischen Krankenhaus und lebt heute als freier Schriftsteller in Vaasa. 2010 erhielt er den wichtigen Kalevi Jäntti-Preis für seinen Roman „Käärinliinat“, der in Deutschland als „Leichentücher“ bei dtv erschienen ist.
Die folgende Geschichte hat lange geschlummert und erhebt sich nun in erstmaliger deutscher Übersetzung, um auf Baltic Cultures ihr Unwesen zu treiben…
Der unterirdische Nil
„Wollt ihr mal eine Mumie anfassen?“
Kristian war sich nicht sicher, ob er die in
gebrochenem Englisch geäußerte Frage richtig verstanden hatte, und
beugte sich deshalb weiter zu Hassan hinüber. Dessen Kopf hüpfte
zwischen den Vordersitzen des Autos im Takt der Unebenheiten im
Straßenbelag auf und ab, aber das Lächeln schien sich nicht von der
Stelle zu bewegen.
„Anfassen!“, rief er. „Eine Mumie!“
Kristian lachte und sah den Rest der Gruppe an, die
sich in den hinteren Teil des Peugeot Kombi gezwängt hatte. Riina,
Marja und er selbst durften annähernd bequem auf der Bank sitzen.
Die Reihe war an Pasi, im Kofferraum zu hocken, zwischen den
Rucksäcken und den Wasserflaschen. Sie alle lächelten bei Hassans
Frage genauso unsicher wie er.
„Warum nicht? Darf man die denn anfassen?“,
fragte Pasi fröhlich zwischen seinen Knien hindurch.
Hassan lachte sein heiseres Lachen und hob den
Zeigefinger an die Lippen.
„Darf man natürlich nicht, aber Hassan hat
Freunde.“
Er wandte sich um und gab dem mageren Fahrer
Anweisungen, den er vor drei Stunden, zwei Tempeln und zu vielen
drückend heißen königlichen Grabkammern als seinen ältesten Sohn
vorgestellt hatte. Kristian warf einen fragenden Blick über die
Schulter.
„Manchmal lassen die einen offenbar in für
Touristen gesperrte Gräber“, sagte Pasi auf Finnisch, „aber ich
habe noch nie gehört, dass man Mumien…“
„Das ist doch wieder so ein Betrug“, murmelte
Kristian. „Wollen wir wetten?“
„Jetzt denk mal ein bisschen positiver“, sagte
Riina und stupste ihn mit den Ellenbogen an.
„Ich ertrage es einfach nicht, ständig über den
Tisch gezogen zu werden“, beharrte Kristian. „Gestern auch
wieder, bei diesem–“
„Schauen wir uns das erst mal in Ruhe an“, sagte
Marja beruhigend und streckte die Hand über die Rückenlehne, um
Pasis verschwitzte Stirn zu streicheln. „Du kommst dann wenigstens
raus und kannst dir die Beine vertreten.“
„Ich will jedenfalls in keine Grabkammer mehr, in
der man keine Luft bekommt und die Hieroglyphen einem vor den Augen
tanzen“, sagte Kristian und rieb sich die Lider, die vom Schweiß
brannten.
„Du hältst es doch nicht aus zurückbleiben“,
flüsterte Riina. Sie wusste, dass Kristian nervös und reizbar war,
weil er sich Sorgen machte. Sorgen um sie. Auch auf den Basaren war
er aufgeregt und sah sich ständig um, fürchtete Diebe, ungestüme
Kutscher und Terroristen. Und Betrüger. Nachdem die ernsteren
Bedrohungen ausgeblieben waren, hatte sich dieses Wort zur Mutter
aller Schreckgespenster entwickelt.
Das Auto stoppte abrupt, als Hassan ihren Zielort
erspähte. Mit ernster Miene drehte er sich zu seiner
Reisegesellschaft um.
„Seht ihr diese Ausgrabungsstätte dort?“
Kristian kniff die Augen zusammen und schaute in die
Richtung, in die Hassan deutete. Erst sah er nichts als den in der
Sonne glühenden Sand.
„Da“, schrie Marja auf und zeigte auf einen
Hügel, aus dem ein verfallenes Mauerstück von etwa einem halben
Meter Länge hervorragte.
„Ja“, flüsterte Riina begeistert.
„Das ist das Grab der namenlosen Priesterin von
Muti, das erst vor einigen Wochen entdeckt wurde“, sagte Hassan.
„Geht da rüber und folgt den Wächtern. Nehmt genau zwanzig
ägyptische Pfund mit. Sie werden mehr verlangen, nachdem sie euch
die Mumie gezeigt haben, aber gebt ihnen nur so viel.“
Die ganze Reisegesellschaft nickte und lachte
unsicher. Jeder einzelne von ihnen dachte im Stillen, dass sie gerade
übel übers Ohr gehauen wurden. Dennoch kramten Kristian und Pasi
die eingerissenen Zehn-Pfund-Noten aus ihren Portemonnaies und
steckten sie in die Taschen ihrer Shorts.
„Okay, dann geht. Said und ich warten im Auto.“
„Kommt ihr nicht mit?“, fragte Pasi.
Hassan lachte und schüttelte den Kopf.
„Wenn es Probleme gibt, habt ihr von uns nicht ein
Wörtchen über die Mumie gehört. Klar? Ihr wolltet euch nur die
Beine vertreten und seid zufällig auf die Ausgrabung gestoßen.“
„Okay.“
„Und denkt dran, die Wächter verlieren ihre
Arbeit, wenn die Behörden davon erfahren.“
Kristian warf den anderen einen finsteren Blick zu,
der ihnen deutlich zeigte, dass er Hassan kein Wort glaubte.
„Los, checken wir mal, was Sache ist“, murmelte
Pasi.
Sie stiegen aus dem Auto und streckten die tauben
Glieder im Sonnenlicht, das aus allen Richtungen zugleich zu kommen
schien. Marja und Riina machten gemeinsame Selfies. Pasi versuchte,
ihren Standort auf einer kleinen Karte zu finden.
Kristian sah sich um. Sie hatten seit einer halben
Stunde niemanden mehr gesehen, was am Westufer des Nils zu dieser
Tageszeit und weniger als zwanzig Kilometer vom Tal der Könige
entfernt ungewöhnlich war. Kristian beschwerte sich nicht. Die
lauten Amerikaner entsprachen nicht eben seiner Vorstellung von
idealer Gesellschaft. Ihr tollkühner Nationalstolz zog die wütenden
Blicke der Einheimischen auf sich, was Kristian nervös machte.
Außerdem durften sie die Touristen und die aufdringlichen Verkäufer
noch den ganzen Abend ertragen, sobald Hassans Boot sie über den Nil
zurück zur Stadt brachte.
Sie hatten Hassan in der Nähe des Luxor-Tempels
gefunden, von wo die Feluken die Touristen in einem beständigen
Strom ans Westufer brachten, zu den Gräbern der Pharaonen. Besser
gesagt hatte der laute und breit lächelnde Mann sie gefunden. Zwei
kinderlose Paare in den Dreißigern waren für ihn bestimmt das
ideale Opfer. Er war ihnen unter den anderen aufdringlichen
Verkäufern aufgefallen, die eine Fahrt mit der Feluke anboten, weil
er gut Englisch sprach und ein kleines Heft besaß, in das frühere
Kunden lobende Empfehlungen geschrieben hatten. Hassan made our
day, we can sincerely recommend, und so weiter. Zwischen den
Seiten fand sich auch die Visitenkarte eines finnischen Polizisten,
der hier Urlaub gemacht hatte. Hassan ist ein ungewöhnlich
ehrlicher und zuverlässiger Mann für einen Ägypter, hatte er
auf der Rückseite vermerkt, in der Handschrift eines großen
Weltenbummlers.
„Da ist jemand“, sagte Marja mit gedämpfter
Stimme, als sie auf den Sandhügel zugingen. Kristian hob seine
Sonnenbrille an und sah einen Mann mit einer hellblauen Dschallabija
und einem weißen Kopftuch. Der Mann drehte sich um und sprach mit
jemandem, der offenbar unter ihm stand, dort, wo die Ausgrabung sein
musste. Dann kam ein zweiter verschleierter Mann hinter dem Sandhügel
hervor. Keiner von beiden winkte oder zeigte, dass er sie auch nur
bemerkt hätte.
„Salam aleikum!“, rief Pasi. Außer
diesem Gruß konnte er auf Arabisch nur „nein danke“ sagen.
Keine Antwort. Nur ein paar nervöse Blicke.
Als sie auf die Anhöhe geklettert waren, nickten
die Männer kaum merklich und gingen ihnen voran durch eine niedrige
Türöffnung, hinter der eine Treppe nach unten führte. Kristian sah
an der Wand ein kleines Schild, nach dessen Aufschrift die
österreichische Regierung die Ausgrabung finanzierte.
„Sieht echt aus“, sagte Pasi. „Das reicht
mir.“
Kristian sagte dazu nichts.
Als sie hinter den Wächtern die Treppe
hinunterstiegen, gerieten ihre an das blendende Sonnenlicht gewöhnten
Augen für einen Moment in völlige Dunkelheit. Sonnenbrillen wurden
zusammengeklappt, und sie folgten dem Glühen vor ihnen, das die
kleinen Taschenlampen der Männer und die brennenden Enden ihrer
Zigaretten abgaben. Marjas Fuß rutschte auf einer abgerundeten Stufe
aus, doch Pasi hielt sie fest. Sie kicherten wie ein Pärchen, das
von einer Runde durch die Bars zurückkam.
Kristian war nicht zum Lachen zumute.
„Wir können draußen warten“, flüsterte er
Riina zu.
„Beruhig dich“, erwiderte sie. „Ich will das
sehen.“
Kristian gefiel diese Antwort nicht. Er machte sich
Sorgen um das Baby. Oder eher um seine Frau, denn das Kind konnte man
noch nicht wirklich als Mensch bezeichnen. Es war nur ein Schatten
auf dem Ultraschallbild. Ein schwer zu deutender Tintenklecks, der
ihre Zukunft vorhersagte.
Kristian lehnte sich gegen die Wand und spürte
unter den Fingerspitzen symmetrische Einkerbungen. Bei näherem
Hinsehen erkannte er im Licht der Taschenlampen verblasste
Hieroglyphen. Ihre abgebrochenen Schnörkel fingen für einen Moment
seine Gedanken ein. War das hier wirklich ein Grab? Die Ungewissheit
machte ihn wütend. Sie hatte sich durch den gesamten Urlaub gezogen.
Die großartige Geschichte, die sich allzu oft als Blendwerk aus
Sandmischungen oder Papiermasse herausstellte.
Die Treppe endete und sie traten auf den unebenen
Erdboden. Bald hielt der langgesichtige Mann inne und deutete mit der
Taschenlampe in eine Ecke.
„Look, look.“
Pasi spähte in die Richtung, in die der Mann
zeigte.
„Hier ist irgendein… ganz tiefer Brunnen“,
sagte er mit heiserer Stimme.
„Closer, look“, drängte der Mann.
Pasi beugte sich weiter über die runde Öffnung.
„Ha… da liegt der Kadaver von einem Fahrrad ohne
Reifen. Und Tuben mit Sonnencreme.“
„Oho. Welchen Lichtschutzfaktor haben sie denn im
Neuen Reich verwendet?“, fragte Riina.
„Komm jetzt da weg“, sagte Marja zu Pasi, der
immer noch in den Brunnen spähte.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die
Dunkelheit. Nach ein paar Minuten blieben die Männer vor ihnen
stehen und wandten sich um. Das Licht der Taschenlampen ließ ihre
Gesichter geisterhaft erscheinen. Sie gestikulierten in Richtung
eines zweiten Brunnens, der keinen Meter von Marjas Sandalen entfernt
war. Sie tat ein paar erschrockene Schritte zurück. Einer der Männer
beleuchtete einen niedrigen, einbeinigen Steintisch, dessen
Oberfläche mit Hieroglyphen verziert war.
„Ein Opfertisch“, sagte Riina. Der Mann nickte
und wiederholte ein seltsames, arabisches Wort. Sie hatten ähnliche
Tische vorher in den Tempeln von Luxor und Deir el-Medina gesehen.
Sie gingen weiter. Ihre finstere Wanderung dauerte
noch mehrere Minuten, bevor man ihnen erneut bedeutete zu warten.
Heute, am 9. April, ist in Finnland wieder Flaggtag. Geehrt wird die finnische Sprache und der Reformator und Bischof Mikael Agricola (1509-1557), der als Vater der finnischen Schriftsprache gilt. Denn im Gegensatz zum Deutschen ist das geschriebene Finnisch noch sehr jung und wurde erst im 16. Jahrhundert von ebenjenem Agricola entwickelt.
Wir nutzen den Flaggtag und geben euch einen knappen Überblick über die Entwicklung der finnischen Schriftsprache – ein öder Titel, hinter dem sich eine spannende Geschichte versteckt.
Minna Canth war eine finnische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie war die erste Frau mit einem eigenen Flaggentag in Finnland. Ihr zu Ehren wird am 19. März im ganzen Land die finnische Flagge gehisst und der Tag als Tag der Gleichberechtigung gefeiert. Sie setzte sich stets für die Rechte der Frauen und gegen die sozialen Missstände ein.
In der Zeit, in der in Deutschland die Karnevalsumzüge in vollem Gange sind und Faschingsfeten organisiert werden, feiern die Finnen Laskiainen (dt. Fastnacht). Auch im Norden nutzen die Menschen noch einmal die Tage, bevor traditionell die 40-tägige Fastenzeit bis Ostern beginnt. Allerdings hat das heutige Laskiainen nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Feiertag gemein.